WEISEL/RHEIN-LAHN. (22. Juli 2016) „Wenn sich da jetzt niemand kümmert, dann kann das nicht funktionieren.“ Das war der erste Gedanke, der Martin Lorch in den Sinn kam, als Ortsbürgermeister Ottmar Kappus während einer öffentlichen Versammlung bekannt gab, dass in Weisel die ersten zehn Flüchtlinge aus Syrien in der Gemeinde erwartet werden. Etwa ein halbes Jahr ist das her. Was mit Improvisationskunst begann, wurde in hilfreiche Bahnen gelenkt.
Keine Woche dauert es, bis neun junge Männer im Februar in Weisel eintreffen. „Was brauchen die jetzt?“, fragt sich Lorch damals zusammen mit seinem Nachbarn Andreas Fetz, der wie rund andere 40 Weiseler helfen will, damit sich die Fremden in der knapp 1200 Einwohner zählenden Loreley-Gemeinde nicht allein gelassen vorkommen. Der Messenger-Dienst WhatsApp ist erstes Hilfsmittel, damit die Hilfsbereitschaft schnell konkret werden kann. Fahrdienste zu Arzt, Schule und Behörden werden koordiniert, Kleidung, Haushaltsgeräte, Lebensmittel, W-Lan-Zugänge und ganz banale Dinge wie Waschpulver organisiert. Auch Deutsch-Sprachkurse, die der Staat erst nach einer Asyl-Anerkennung gewährt, werden aufgebaut, damit sich die Fremden leichter zurechtfinden.
Mittlerweile sind die Wohnungen eingerichtet, Volker Bernhard koordiniert den Deutschunterricht, dreimal in der Woche stehen dafür die Gemeindebücherei und das Rathaus zur Verfügung. „Wir haben ganz gute Hilfsstrukturen geschaffen“, sagt Lorch. Das Handy ist sowohl für die Flüchtlinge als einzige Verbindung in die Heimat sowie für die Helfer in Weisel Kommunikationsmittel Nummer eins. „Aber es geht nicht mehr so hektisch zu, und es findet sich immer jemand, der für die angefragten Hilfen parat steht oder jemanden kennt, der hilft“, so Lorch.
Ende Mai steigt Gemeindepfarrerin Annette Seifert als Koordinatorin in die Hilfe ein, als zwei Familien in Weisel empfangen werden, eine Frau mit sechs und ein Ehepaar mit fünf Kindern. „Die Erfahrungen vom Februar waren fürs Willkommen schon sehr hilfreich“, sagt Seifert und ist froh, dass mit Melanie Dillenberger, Klaudia Kunz, Edeltraud Schupp, Regina Stein und Doris Tarkel der „harte Kern“ eines Helfer-Teams zur Stelle ist, um sich um die Familien zu kümmern. „Die Sprachkenntnisse werden besser“, sagt Seifert, die selbst manch arabische Worte dank eines mehrjährigen Aufenthalts in Israel ins Deutsche ableiten kann. Nur beim Behördendeutsch in manchen Formularen kommen selbst die Weiseler Helfer – von den Flüchtlingen ganz zu schweigen – manchmal ins Schleudern.
Aber auch neue Herausforderungen wollen nun gemeistert werden, wie die Integration der Kinder in Kindergärten und Schulen, bei denen sich ab und an auch Heimweh Bahn bricht. „Und dann darf man nicht vergessen, welche Erlebnisse in Heimat und während der Flucht Kinder und Erwachsene zu verarbeiten haben“, sagt die Seelsorgerin. Gemeinsames Kochen und Essen (Foto links), Einkaufen, kleine Spaziergänge, Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten, das gemeinsame Eis beim Ausflug – das alles seien kleine Schritte, um allmählich Vertrauen aufzubauen. „Die Mischung aus Behüten und flügge werden lassen ist eine Gratwanderung“, ist Seiferts Erfahrung.
Sehr anrührend für sie: während des Ramadan wird sie fast täglich zu später Abendstunde mit Essen versorgt. Der muslimische Fastenmonat sorgt bei der christlichen Pfarrerin für eine Gewichtszunahme, wie sie schmunzelnd berichtet. „Wenn ich nicht die Familie besuchte, haben mir die Kinder syrische Spezialitäten rübergebracht“, erzählt sie. „Dass wir aus Zeitgründen Einladungen oft ausschlagen müssen, verstehen sie nicht, sind darüber aber auch nicht böse. Sie möchten sich nur so gerne für unsere Hilfen bedanken, und die arabische Gastfreundschaft ist ohnegleichen.“
„Weisel hilft“ nennt sich die pragmatische Initiative. Die Frage nach dem „Warum“ hat sich den Weiselern nie gestellt. „Viel Zeit zum Nachdenken hatten wir ja nicht. Da kamen Menschen in unseren Ort, die dringend Hilfe brauchen. Also haben wir geholfen“, erinnert sich Lorch. Natürlich sei Helfen Grundlage christlicher Nächstenliebe, sagt Annette Seifert. „Aber das ist keine Einbahnstraße. Es sind Kontakte, die einen auch selbst bereichern“, so die Theologin. „Man sieht auch das eigene Land mit anderen Augen, merkt, dass Vieles keinesfalls so selbstverständlich ist, wie man glaubt.“ Bernd-Christoph Matern
Zum Foto (oben links):
Vertrauen aufbauen, das im Krieg und auf der Flucht verloren ging – das ist ein Anliegen der Initiative „Weisel hilft“, in der auch Annette Seifert (rechts) und Matthias Lorch (3. von rechts) syrische Flüchtlingsfamilien unterstützen. Foto: Matern
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