Zehn Jahre Diezer Tafel sind kein Grund zum Feiern

thumb_1a-10tafeldi020816auto_becrima-thumb_1a-10tafeldi020816gute_becrima-DIEZ/RHEIN-LAHN. (26. August 2016) Im April 2006 eröffnete das Diakonische Werk (DW) die erste Tafel im Rhein-Lahn-Kreis in Diez. Mittlerweile ist die Einrichtung von der Wilhelmsstraße in größere Räume in der Gartenstraße umgezogen, um damit der enorm gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden. Der ehrenamtliche Einsatz in der Tafel ist unverändert hoch. Das soll auch während einer Jubiläumsveranstaltung zum Ausdruck kommen.

 

"Zehn Jahre Tafel – das ist beileibe kein Grund zum Feiern“, sagt die Leiterin des DW Rhein-Lahn in Bad Ems Ulrike Bittner-Pommerenke. „Wir hätten uns das anders gewünscht; denn eigentlich ist es eine Schande, dass Menschen in einem der reichsten Länder der Erde auf eine solche Einrichtung angewiesen sind, um über die Runden zu kommen“, weist die Leiterin auf soziale Missstände hin, die vor allem mit den Hartz-IV-Reformen in Gang gesetzt worden seien.

thumb_1a-10tafeldi020816krquer_becrima-Daran erinnert sich auch DW-Mitarbeiter Oliver Krebs, der die Diezer Tafel von Anfang an betreute, noch sehr gut. „Wir haben damals in unseren Beratungsstellen gemerkt, dass es den Leuten vorn und hinten nicht mehr zum Leben reicht“, erinnert sich Krebs an die Situation, bevor sich das Werk entschied, eine Tafel in Diez einzurichten. Den Satz „Wir haben nichts mehr zum Essen zuhause“ habe er damals sehr häufig in den Sprechstunden für Sozialhilfeempfänger zu Ohren bekommen. „Das berührt einem ja auch als Berater, weil es existenzielle Nöte sind, mit denen man da konfrontiert wird“, sagt der Diplom-Sozialarbeiter.

Anregungen holten sich die Organisatoren von der Tafel in Grünberg. „Für uns war das ja absolutes Neuland“, so Krebs. Dort schauten sie sich auch das „Kisten-System“ ab. Das bedeutet: Bevor die Tür zur Tafel geöffnet wird, sind die Lebensmittel bereits in Kisten verteilt, die ganz konkreten Haushalten und Einzelpersonen zugeordnet sind. „Damit kann auch der Letzte, der kommt, noch in aller Ruhe seine Sachen einsortieren, und die Waren gehen nicht nur thumb_1a-10tafeldi020816schild_becrima-an die Ersten und Stärksten, wenn alles in der Mitte zum Aussuchen hingelegt wird.“ Ebenso wichtig war den Verantwortlichen, dass sachlich überprüft wird, wem die Tafel die Tür öffnet. „Nicht der, der meint, bedürftig zu sein, sondern der es auch ist, soll von der Einrichtung profitieren“, so Krebs.

Dass die wachsende Armut in der heimischen Bevölkerung gebremst wird und die Tafeln überflüssig macht, blieb ein frommer Wunsch. „Mit solch einem Bedarf und Ansturm hätten wir vor zehn Jahren nie gerechnet, als wir das kleine Lädchen in der Wilhelmstraße eröffneten.“ Ein paar Zahlen: 20 bis 30 Haushalte wurden nach der Eröffnung der Diezer Tafel an zwei Tagen in der Woche mit Lebensmitteln versorgt. Mittlerweile werden an drei Öffnungstagen pro Woche Kisten für 111 Haushalte gefüllt; im Juli waren das 185 Erwachsene und 115 Kinder. Die Warteliste mit „berechtigten“ Interessenten ist lang.

thumb_1a-10tafeldi020816sorti_becrima-Deshalb wurde ein Rotationssystem eingeführt, dass die Nutzung der Tafel erst einmal auf ein Jahr begrenzt. So konnten in diesem Jahr bereits 190 Haushalte die Tafel in Anspruch nehmen. Der Kinderanteil ist nach wie vor sehr hoch; ansonsten ist die Kundschaft bunt gemischt; neben Familien gehören auch junge Singles und verwitwete Alleinstehende jenseits der 80 zum Klientel. Im vergangenen Jahr kamen verstärkt Flüchtlinge hinzu.

Immerhin konnte vor vier Jahren in der Gartenstraße in Diez-Freiendiez ein größeres Domizil für die Tafel bezogen werden. „Aber das lässt sich ja nicht beliebig fortsetzen, schließlich ist so etwas mit höherem Arbeitsaufwand und steigenden laufenden Kosten verbunden“, klagt Krebs. Mehr Miete, mehr Nebenkosten, größere Kühlschränke und Transportfahrzeuge – das alles müsse bei null Einnahmen gestemmt werden. „Die Tafel existiert ja allein auf Spendenbasis.“ Immerhin fanden sich die bislang immer. So finanzierte etwa die Paulinenstiftung ein neues großes Transportfahrzeug, das die Waren kühlt, um den Hygienevorschriften zu genügen.

thumb_1a-10tafeldi020816fahrer_becrima-Ein Ansturm anderer Art blieb Krebs aber ebenfalls in Erinnerung, und zwar in bester: „Als wir zum ersten Mal öffentlich in der Stiftskirchengemeinde die Tafel-Pläne für Diez vorstellten, um für ehrenamtliche Hilfe zu werben, war ich überwältigt, wie viele Leute kamen und wie groß die Bereitschaft war, in der Tafel mitzuarbeiten“. Und das Engagement ist bis heute groß geblieben, was nicht selbstverständlich sei. „Ich weiß, dass sich mancher Helfer sogar rechtfertigen und unglaubliche Sachen anhören muss“, so Krebs, „warum er Dinge tut, die der Staat erledigen müsse oder wie man Flüchtlinge unterstützen könne.“

Den Helfern ist ihre Arbeit wichtiger als solches Geschwätz. „Zupacken statt Weggucken“ lautet deren Devise. „Ich wollte immer etwas Soziales tun, wenn ich mal nicht mehr arbeiten muss“, thumb_1a-10tafeldi020816warer_becrima-sagt Rita Faulstich, „in der Diezer Tafel hab ich das gefunden.“ Für sie und Natalie Gapp ist es auch eine Schande, „was an Lebensmitteln alles einfach weggeschmissen würde“. Damit meinen sie nicht nur die fünf Kisten Bananen, an denen nichts Schlechtes zu erkennen ist. Die Beiden sortieren gerade die Kisten voll, die mit Namensschildern ausgestattet sind und der Anzahl der Personen, die den Inhalt bekommen.

Den holen an diesem Morgen Karl-Heinz Pohl und Rita Meyer in mehreren Touren von den Supermärkten und Bäckereien der Region im Kühlwagen ab. Auch die Lieferantenzahl hat sich in zehn Jahren verändert. 2006 wurden zehn Märkte angesteuert, heute sind es 22. „Dauerte die Fahrerei früher zwei Stunden, können es heute fünf bis sechs Stunden werden“, erzählt Meyer, die zu den Helfern der ersten Stunde zählt und die als Fahrdienstleiterin Struktur in die anfangs noch ungeordnete Tafel-Logistik brachte. „Im Ehrenamt hat man nie Feierabend; da müssen wir wohl mal die Gewerkschaft einschalten“, scherzt Meyer mit Oliver Krebs. „Glücklicherweise ist auch das typisch für unsere Arbeit hier“, sagt der. „Wir sind eine lustige Truppe und haben auch nicht vor, unseren Humor zu verlieren.“

Dafür zu danken, dass diese Einstellung auch nach zehn Jahren noch nicht verloren ging und dass in dieser Zeit immer wieder Menschen bereit waren, mit anzupacken, deshalb gestaltet das Mitarbeiter-Team zusammen mit Pfarrerin Maike Kniese einen Gottesdienst zum zehnjährigen Bestehen der Diezer Tafel und zwar am Sonntag, 16. Oktober um 10 Uhr. Nach einem Empfang besteht anschließend während eines Tages der offenen Tür die Möglichkeit, sich die Räume der Tafel in der benachbarten Gartenstraße anzuschauen und sich über die Arbeit dort zu informieren. Bernd-Christoph Matern

Informationen zur Diezer Tafel gibt Oliver Krebs unter Telefon 06432-7282.

Auf einen Blick in Zahlen*


900
Das Verteilernetz der Lebensmittelretter zieht sich über ganz Deutschland. Seitdem die erste Tafel 1993 gegründet wurde, sind mittlerweile mehr als 900 Tafeln hinzugekommen.

60.000
Ohne das Engagement der 60.000 Ehrenamtlichen wären die Tafeln in Deutschland undenkbar. Sie spenden ihre Freizeit und ihren Elan für die Tafel-Idee.

200.000
Die Tafeln retten jährlich zirka 200.000 Tonnen Lebensmittel und geben sie an Bedürftige weiter.

15
15 Prozent beträgt die Armutsquote in Deutschland.

1.500.000
Etwa 1,5 Millionen Menschen werden jedes Jahr von den Tafeln unterstützt.

2000
Damit die Lebensmittel von den Supermärkten und Bäckereien zu den Tafeln gelangen, sind mehr als 2000 tafeleigene Fahrzeuge unterwegs.

*Angaben Bundesverband Deutscher Tafeln