Diskussion in Stiftskirche Diez: Grundgesetz setzt Grenzen der Toleranz

thumb_1a-og230417moderation_becrima-DIEZ/RHEIN-LAHN. (26. April 2017) „Was für ein Land wollen wir sein?“ Diese Frage stand über einer Diskussion in der evangelischen Stiftskirche in Diez und war eng verknüpft mit der Aufnahme von Flüchtlingen seit 2015. Erfahrungen bei der Integration von Asylbewerbern wurden ausgetauscht und Grenzen einer offenen Gesellschaft angesprochen, die Menschen fremder Kulturen aufnimmt. Eine Rote Linie: wenn in Deutschland lebende Türken hier über die Todesstrafe abstimmen dürften. Zwei Begriffe wurden an diesem Abend allerdings besonders häufig genannt: Freundlichkeit und Toleranz.

thumb_1a-og230417handzettel_becrima-Eine Kultur der Angst und Abgrenzung mache sich in Deutschland breit, empfand die Moderatorin des Abends Janina Franz, Vikarin der evangelischen Stiftskirchengemeinde, zur Begrüßung. Dann bat sie diejenigen, die sich für einen toleranten Menschen halten, aufzustehen. Das spontane Erheben von den Sitzen, als würde zum Gebet gerufen, drückte große Einigkeit aus; dass Toleranz relativ ist, offenbarte die Diskussion. Unterschiedliche Denkanstöße, wie weit Toleranz in einer offenen Gesellschaft gehen darf, lieferten die Beiträge der vielen Redner, die Franz ans Mikrofon bat.

Am konkretesten formulierte das der Landtagsabgeordnete Matthias Lammert (CDU), der ein deutsches Grundgesetz im Chorraum hochhielt. „Das gilt für alle Menschen, die hier leben, ob Deutscher oder Flüchtling, und wer hier herkommt, muss das akzeptieren“, so Lammert; es garantiere eine offene Gesellschaft und Rechte wie Meinungs- und Religionsfreiheit auch für Minderheiten, wie sie etwa Christen in der Türkei nicht hätten. Unerträglich sei für ihn aber der Gedanke, wenn in Deutschland lebende Türken über die Einführung der Todesstrafe abstimmen dürften. Demokratie sei zudem eine sehr schwierige Staatsform, weil sie die Bürger fordere; „andere Länder würden sich wünschen, wählen zu können, und bei uns liegt die Beteiligung nur bei rund 60 Prozent“.

thumb_1a-og230417vv_becrima-In einem friedlichen und ruhigen Land, in dem sich die Menschen freundlich begegnen, möchten die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak leben, die sich in der Kirche zu Wort meldeten. „Ich habe den Traum von einem Land, in dem es kein Kind mehr gibt, dass nur noch eine Puppe in der Hand hält, weil es seine Eltern im Krieg verloren hat“, sagte eine Syrerin. Eine Elfjährige aus Afghanistan zeigte sich unter Tränen dankbar, wie positiv sich die Mutter verändert habe, seit sie in Diez so freundlich aufgenommen wurde.

Eine Gesellschaft, in der über kulturelle und religiöse Unterschiede gesprochen wird, um zum freundlich-respektvollen Miteinander zu finden, wünschte sich Christiane Beule, Vorsitzende des Diezer Willkommenskreises, nachdem sie über dessen Engagement berichtet hatte. Der Kreis könne stolz sein, nicht nur Sprache, sondern auch in Deutschland geltende Normen und thumb_1a-og230417podium_becrima-Werte zu vermitteln. Zuletzt konstatiere sie eine gewisse Müdigkeit auf beiden Seiten. „Da besteht die Gefahr, bequem zu werden. Das kann ich verstehen, aber Integration muss ständig weitergehen.“ Sich gegenseitig ernst zu nehmen, Respekt vor jedem Einzelnen und dem Grundgesetz sowie Toleranz unter den Religionen wünschte sich Beule. Eine Besucherin schob den Willen nach Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann und zwischen Menschen mit und ohne Behinderung noch hinterher.

Wenn sich Afrikas Bevölkerung bis 2050 noch einmal verdoppelt, sei klar, dass es auch zahlenmäßig eine Grenze geben müsse, um dem Migrationsdruck auf Europa und Deutschland gewachsen zu bleiben, sagte Christian Wuth, der mit seinen Ehrenämtern bei Feuerwehr und Notfallseelsorge verdeutlichte, was für ihn Toleranz bedeutet: „Wir helfen völlig frei von der Frage, wem wir helfen.“ Auch der Sport sei ein Beispiel für gelingende Integration. „Wir sind eine tolle offene und freie Gesellschaft, müssen aber auch klar machen, wo unsere Grenzen liegen“, sprach Wuth die seit 40 Jahre andauernde und demokratisch geführte Diskussion um den Schwimmunterricht muslimischer Mädchen an. Eine Grenze sei ebenso erreicht, wenn es unter Muslimen Leute gibt, die einen Gottesstaat mit eigener Gesetzgebung wollen und wenn Islamismus für Angst sorgt, die das Verhalten der Bürger beeinflusst und verändert.

thumb_1a-og230417publikumaliham_becrima-Einheimische, die auch Flüchtlingen vertrauen und sie nicht nach Anschlägen von Islamisten missgünstig anschauen, wünschte sich indes eine Vertreterin des Diezer Flüchtlingsrates. Vor solchen Attentätern seien sie aus der Heimat geflohen. „Wir können uns anpassen ohne uns zu verlieren“, erklärte Ali Hamdan, warum er sich in Diez daheim fühlt. Mehr aufeinander zuzugehen und weniger nach Juristen und Staat zu rufen, präferierte der in Limburg aufgewachsene Yusuf Kutlucan. Er verglich die Integrationsprobleme mit dem schwarzen Punkt auf einem weißen Blatt. „Der Betrachter nimmt nur den schwarzen Punkt, nicht das weiße Blatt wahr.“ Vor Pauschalisierungen warnte Jonathan Makonnen, Freund von Ali Can, der als Asylbewerber eine bundesweite „Hotline für besorgte Bürger“ einrichtete. In Dresden habe man Pegida-Anhänger interviewt und eigener Vorurteile zum Trotz festgestellt: „Die Gruppe der Anhänger ist total heterogen.“ Zuhören sei der Anfang von Verständnis. Erst daraus könne eine Leitkultur entwickelt werden, die die Bürger wollen und die Frage gestellt werden „Was ist denn Deutsch?“.

Fremd schien dem eingeladenen Diezer Nachwuchs die Diskussion über Abgrenzungsversuche unter Staaten. „Bildung und was jeder Mensch leisten kann, sind wichtig, nicht das Land, wo man zufällig herkommt“, meinten Miranda Frölich und Linda Maxeiner und diagnostizierten Religionen als Streit fördernd, wenn jeder seine Werte gefährdet sieht. „Wir denken, studieren und arbeiten europäisch und global; da steht das Herkunftsland im Hintergrund.“ Ähnlich argumentierte ein Besucher mit persischen Wurzeln: „Orientierung bietet mir, was ich meinen Kindern beibringen will“, so der gebürtige Iraner. Es gehe um Identität, und dabei seien weder Nationalität noch Religion die entscheidenden Kriterien. Den meisten Einfluss darauf könne man in unmittelbarer Nähe in seiner Familie, dem Dorf oder Stadtteil nehmen. Bernd-Christoph Matern

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Was braucht es, damit aus der Willkommenskultur für Flüchtlinge keine Angstkultur wird, die die offene Gesellschaft bedroht? Darüber wurde aus vielen Perspektiven in der evangelischen Stiftskirche Diez diskutiert. Fotos: Matern