Demenz-Kranke ins Andersland begleiten statt stoppen wollen

thumb_1a-10dnna170517_becrima-NASSAU/RHEIN-LAHN. (6. Juni 2017) Demenz und Lachen – passt das zusammen? Wenn ein Experte wie Erich Schützendorf mit seinem feinsinnig rheinischen Humor von seinen jahrzehntelangen Erfahrungen über den Umgang mit den Erkrankten berichtet, durchaus. Nachdem zum Auftakt des Programms zum zehnjährigen Bestehen des Demenz-Netzwerks Bad Ems-Nassau die medizinische Diagnose der Krankheit im Mittelpunkt stand, ging es in Schützendorfs Vortrag in Nassau vor allem um den alltäglichen Umgang mit den Patienten, um deren Innenleben und Gedankenwelt.

"Demenz – eine Reise in das Andersland" hat der Autor den Abend überschrieben, um seine im gleichnamigen Buch aufgeschriebenen Erfahrungen kurzweilig an die Zuhörer im gut besetzten Kulturkeller des Günter-Leifheit-Kulturhauses weiterzugeben. Die vielen Beispiele, die Schützendorf im Laufe seiner Berufstätigkeit gesammelt hat und von denen er dort ebenso launisch wie feinfühlig in Worten, später mit Filmen berichtet, sind ein Plädoyer dafür, in aller Ruhe alt und ver-rückt werden zu dürfen.

thumb_1a-10dnna170517saalflach_becrima-Sowohl den anwesenden Pflegekräften als auch vielen Angehörigen im Kulturkeller erschließt er eine andere Perspektive für den Umgang mit Dementen. „Die aus Normalien wollen ihre Lieben an ihrer Reise ins Andersland hindern anstatt sie zu begleiten“, sagt der Diplom-Pädagoge , der seit 1976 Leiter des Fachbereichs „Fragen des Älterwerdens“ an der Volkshochschule am Niederrhein war und zahlreiche Bücher zum Thema publizierte. Symbolische Sprachbilder könnten Demente immer weniger verstehen. „Seien sie konkret“, rät der Referent. „Komm, wir hauen uns aufs Ohr!“, entlocke dem Dementen einen Schreck, „komm, wir schlafen eine Runde“, sei zielführender.

Schützendorf will den Zuhörern deutlich machen, dass dieses „Andersland“ vor allem ein Land der Poesie, der Sinnlichkeit und der Gefühle ist und nicht eins der Vernunft und des Aktionismus. „Wenn die Mutter einfach in den Garten guckt, müssen wir sie nicht aktivieren wollen ohne Rücksicht, was da gerade in ihr vorgeht.“ Ständig Fragen zu stellen, sei wohl ein genetischer Defekt der Normalier. „Auch mal zuhören und schweigen“, hält Schützendorf oft für angebrachter. In einem anderen Stadium spiele der Demente vielleicht gerade mit dem Finger in verschüttetem Kaffee und der Angehörige frage nüchtern beim Wegputzen: „Bist du jetzt fertig mit trinken?“. Dabei sei vielleicht in den Augen des Dementen gerade sein Kunstwerk zerstört worden.

thumb_1a-10dnna170517glas_becrima-Natürlich verstehe er, wenn eine Tochter sagt, Mutter hätte nicht gewollt, dass sie sich mit einer Wurstscheibe die Brillengläser putzt und verschmiert. „Ja, damals hätte sie das nicht gewollt, aber jetzt empfindet sie die Brille als Kaleidoskop, in dem sich das Licht bricht.“ Was bei Kindern als süß und niedlich empfunden werde, „erschreckt uns jetzt“. Wie bei einem Kind, das Eltern schon mal schreien lassen, weil es Vater oder Mutter vermisst, müsse aber auch der Angehörige des Demenz-Patienten seine Belastungsgrenze nicht überschreiten. „Eine Beziehung kommt nie ohne Leid aus.“ Deshalb dürfe auch der Demente leiden.

Schützendorfs Vortrag setzt vor allem ein großes Fragezeichen hinter die Werte, die eine Gesellschaft bestimmen und die sich scheinbar nur von Funktionalität und Rationalität leiten lässt. Wer diese nicht einhält, werde ausgegrenzt. Kant habe propagiert, dass Lebewesen ohne Verstand keine Persönlichkeiten seien; Schiller habe dagegen gesagt, dass der Mensch erst dann ganz Mensch ist, wo er spielt. Mit zweckfreiem Spielen täten sich „normal Bekloppte“ ebenso schwer wie mit dem Weinen, was manchmal hilfreicher sein könne als Tun und Reden.

„Wie viel Eigensinn muten wir uns zu? Und was können wir der Gesellschaft zumuten?“, fragt der Referent und erinnert daran, dass der Staat eingreifen musste, damit Kinder lärmen dürfen. „Aber würde er das auch für einen Dementen tun, der Hilfe schreiend durch die Gegend irrt?“. Anderen Küsschen zuwerfen, mit der Puppe im Arm zum Bäcker gehen oder mit dem Staubsauger über den Bürgersteig laufen, sei vielleicht noch ok, aber über die Grenzen des Ertragbaren müsse durchaus diskutiert werden.

Der würdevolle Umgang mit Menschen spreche oft nur den Verstand an, kritisiert Schützendorf und wirbt dafür, dass die Reisebegleitung ins Andersland auch mit einem Andersdenken beginnt. Bernd-Christoph Matern

Mehr Informationen zum Netzwerk Demenz Bad Ems-Nassau finden Sie hier .

Zu den Fotos:
Erich Schützendorf sensibilisierte die Besucher im Nassauer Kulturkeller für die Gefühlswelt von Demenzpatienten. Wasserglas hin oder her: Gefäß ist Gefäß und damit auch ein praktischer Ablageort für die Brille. Fotos: Bernd-Chrstoph Matern