79 Jahre nach dem Holocaust: Gedenken ist wichtig wie eh und je

thumb_1a-gug091117_co-davidmetzmacher-RHEIN-LAHN. (15. November 2017) Am vielleicht bedeutendsten Tag der deutschen Geschichte, dem 9. November, wurde im evangelischen Dekanat Nassauer Land wieder an die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnert, die während der Nazi-Diktatur auch im Rhein-Lahn-Kreis verfolgt, vertrieben und ermordet wurden. Auch 79 Jahre nach dem offenen Ausbruch von Gewalt und Hass in der Pogromnacht 1938 bleibt das Gedenken wichtig wie eh und eh. Zwei Beispiele dafür:

Zum Taharahaus auf dem jüdischen Friedhof in Bad Ems, der direkt an den christlichen Friedhof angrenzt, hatte das Dekanat zum Gebet und Gedenken eingeladen. „1938 gab es in Bad Ems rund 100 Menschen jüdischen Glaubens – nur drei Jahre später war die Kurstadt judenfrei“, eröffnete Renate Weigel, Dekanin des evangelischen Dekanats Nassauer Land, das Gedenken, an dem mehr als 40 Menschen teilnahmen. Die besondere Verantwortung der Christen in Deutschland gegenüber Juden solle damit vergegenwärtigt werden, erklärte Weigel. „Wir erinnern uns heute an Mitbürger, die in Bad Ems gelebt, getanzt, gelacht, gelernt und gesungen haben.“

Die Dekanin las aus einem Erlebnisbericht von Lies Ebinger vom Tag nach der Pogromnacht 1938 vor. Ebinger selbst war damals zwölf Jahre alt war, auch sie wohnte dem Gedenken bei. „Im Nachbarhaus war ein jüdischer Hutladen, der völlig zertrümmert war. Die Schulkinder spielten mit den Hüten Fußball“, heißt es beispielsweise in ihrem Bericht. Die Namen derer, die in Bad Ems dem Nationalsozialismus zum Opfer fielen, wurden als Teil des Gebets verlesen – mit ihren Adressen, ihrem Alter im Jahr 1938 sowie dem Bestimmungsort ihrer Deportation. „Die Namen der Opfer sagen vielen nichts. Erfahren Menschen jedoch, dass diese direkt bei ihnen in der Nachbarschaft gewohnt haben, wird deutlich, dass das alles hier wirklich passiert ist“, sagte Weigel sichtlich bewegt.

Mit vierstimmigen gesungenen Psalmsätzen in hebräischer Sprache bildete ein kleines Ensemble um Hans Joachim Liefke den musikalischen Rahmen des Gedenkens. Der Vorsitzende des Landesverbandes jüdischer Gemeinden in Rheinland-Pfalz Avadislav Avadiev dankte der Dekanin, dass sie das Gedenken ins Leben gerufen hatte. „In dem Moment, in dem wir die Namen derer vorlesen, die Opfer wurden, erinnern wir uns an sie und sprechen ihre Seelen an.“ Es sei unerlässlich an die Vergangenheit zu erinnern, glaubt Avadiev, angesichts der weltweiten Kriege und Barbareien wirke es jedoch nicht so, als hätten die Menschen auch aus ihr gelernt. David Metzmacher

Mahnwache Miehlen: Enthemmte Aggression bleibt unbegreiflich

MIEHLEN. Wie es gelingen konnte, Gewalt und Aggression unter einheimischen Bürgerinnen und Bürgern zu schüren, die über Generationen friedlich zusammenlebten, macht auch 79 Jahre nach den Juden-Pogromen im November 1938 fassungslos und bleibt unbegreiflich. Das war ein Gedanke, der dieses Jahr während einer Mahnwache aufgegriffen wurde, zu der die evangelische Kirchengemeinde Miehlen und die katholische Kirchengemeinde Nastätten zum fünften Mal auf den Miehlener Marktplatz eingeladen hatten.

thumb_1a-mahnwachem2017vh_becrima-Neben dem Gedenken an die 27 in Miehlen geborenen oder zeitweise wohnhaften jüdischen Bürger, die Opfer der Verfolgung wurden, erinnerten die Redner insbesondere ans Schicksal der in der Mühlbachgemeinde geborenen Mina Mannheimer. Dazu konnten Lothar Bindczeck, Gemeindepfarrer Michael Wallau und Gemeindereferent Gernot Casper zwei Forscher begrüßen, die sich mit dem Leben der in Theresienstadt gestorbenen Jüdin intensiv auseinandergesetzt haben.

Giesela Kunze schilderte die Biografie Mannheimers, die während eines Verwandtenbesuchs in Westerwald und Taunus 1870 in Miehlen zur Welt kam; die Eltern wohnten damals noch in Paris, wurden durch den Ausbruch des deutsch-französischen Krieges aber an der Rückreise gehindert. 1873 zog die Familie nach Wiesbaden. Dort trug Kunze für eine Ausstellung die Lebensdaten Mina Mannheimers zusammen, die sie auch nach Miehlen führte. Der gesetzlichen Anordnung von 1938, ihren jüdischen Vornamen Sara anzunehmen, sei der damalige Miehlener Pfarrer von Lengerke im Register der Kirchengemeinde nicht nachgekommen, erzählte Kunze unter anderem.

In einen größeren Zusammenhang rückte der Idsteiner Historiker Gerhard Buck die Familiengeschichte der Mannheimers. Sie sei ein Beispiel für das Schicksal vieler auf dem Land lebender Juden. Sie hätten oft in den Dörfern und Kleinstädten, in denen sie lebten, keine Ehepartner gefunden und mussten umziehen. So erging es teilweise auch den im Westerwald und Taunus lebenden Vorfahren und Verwandten von Mina Mannheimer. Ihr Leben selbst sei von seinem Anfang bis zum Ende von der großen Politik beeinflusst und bestimmt gewesen.

thumb_1a-mahnwachem2017dokus_becrima-Andererseits habe es aber Familien gegeben, die an ihrem Geburtstort die Familiengeschichte fortsetzen konnten, wie etwa die Familien Leopold in Nastätten oder Strauß in Miehlen. Deren Wurzeln in der Region ließen sich bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts in den Personenstandsregistern nachweisen, sagte Buck und geht davon aus, dass sie sogar bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts zurückreichen.

Bei den ab den 1920-er Jahren verfolgten Juden habe es sich also nicht etwa um Fremde oder Zugezogene gehandelt, sondern um alteingesessene Familien. „Als die Verfolgung begann, gehörten sie zu den alten Familien“, so der Genealoge, sie hätten sich in den Orten und der Region zuhause gefühlt; das zeige etwa der Familienname einer Großmutter Mina Mannheimers, die als „geborene Nassauer“ 1862 verstarb. „Über Generationen waren sie Nachbarn gewesen, mit denen sie als Kinder in die gleiche Klasse und Schule gingen.“ Er stelle sich immer wieder die Frage, wie es zum Ausbruch dieser Unmenschlichkeit kommen konnte. Auch für die Nachfahren der Ermordeten oder Geflüchteten bleibe das Nassauer Land die Heimat ihrer Eltern und Großeltern.

Dem öffentlichen Gedenken und dem gemeinsamen Zeugnis aller Christen vom Unrecht und der Gewalt, die jüdische Bürger erleiden mussten, komme auch heute noch eine wichtige Bedeutung zu, sagte Lothar Bindczeck in seiner Begrüßung zur Mahnwache, die zum fünften Mal an die gewaltsamen Übergriffe auf die Synagoge, das Hab, Gut und Leben der jüdischen Bevölkerung erinnerte. „Viele haben das auch bei uns einfach schweigend hingenommen“, so der Vertreter der katholischen Kirchengemeinde.

Der Psalm 137 aus einem zionistischen Liederbuch „An den Strömen Babels saßen wir und weinten“ wurde in hebräischer Sprache von Michael Wallau und später auch den Gästen gesungen. Ein „Jiskor“, also ein Gedenkgebet für die Verstorbenen, wurde ebenso zweisprachig vorgetragen. Darin hieß es unter anderem: „Möge Gott gedenken aller Seelen unserer Geschwister, der Kinder Israels, Opfer und Helden der Shoah, der Seelen der sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder, die getötet, ermordet, erstickt, lebendig begraben, geschlachtet, verbrannt und ertränkt wurden.“ Auch 79 Jahre nach der Pogromnacht leuchteten unter der Gedenktafel 27 Lichter, um an die Miehlener Opfer des Holocaust zu erinnern. Bernd-Christoph Matern

Zu den Fotos:
Auf dem jüdischen Friedhof in Bad Ems (links oben) gedachten Dekanin Renate Weigel und Avadislav Avadiev, Vorsitzender der jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz, zusammen mit den Gästen und einem Gesangs-Ensemble der Verfolgten und Ermordeten. Alte Dokumente erinnerten unter anderem während der Mahnwache auf dem Marktplatz in Miehlen ans Schicksal von Mina Mannheimer. Fotos: Metzmacher/Matern