Angehörige leiden: In der Pflege Dementer gibt es nur Schuldige Drucken E-Mail

thumb_1pfarrerburkhardellmenreichRHEIN-LAHN. (13. Dezember 2010) Spätherbst 2010 an einer Straße im Rhein-Lahn-Kreis: Ein Busfahrer sieht einen Mann im Straßengraben liegen, nur mit einem Schlafanzug bekleidet. „Da hat er noch Glück gehabt, dass ihn der Busfahrer von seinem erhöhten Sitzplatz aus überhaupt wahrgenommen hat“, sagt Burkhard Ellmenreich-Nanninga. Der Pfarrer aus Obernhof leitet drei Angehörigengruppen Demenz. „Der Mann im Schlafanzug gab später an, dass er doch zur Arbeit gehen musste“, schildert er die lebensgefährlichen Auswirkungen der altersbedingten Veränderung.

Beispiele wie das zitierte könnte der Theologe noch viele nennen; doch neben der Gefahr in die sich demenziell veränderte Menschen selbst begeben, kennt Ellmenreich vor allem auch die Sorgen und Nöte der Angehörigen. Die höhere Lebenserwartung lässt die Zahl besonders betroffener hochaltriger Menschen ansteigen. Schon jetzt leiden in Deutschland rund 780.000 Senioren an Demenz, etwa sechs Prozent der 75 bis 79-Jährigen und 35 Prozent der über 90-Jährigen.

„Gerade hier bei uns auf dem Land sind es vor allem die Frauen, die sich für die Pflege verantwortlich fühlen“, weiß er, auch von den Überforderungen, mit denen sich viele von ihnen neben Kindererziehung, Haushalt und Beruf konfrontiert sehen. „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass dir’s wohlgehe und Du lange lebest auf Erden“, lautet das vierte Gebot. „Und wie ist das mit der Schwiegermutter?“, fragt Ellmenreich provozierend.

Pflegende gerieten in einen Zielkonflikt: auf der einen Seite die Pflege geliebter Angehöriger, auf der anderen die Frage wie lange das Partner und Familie mitmachen. „Am Anfang wird der demente Ehemann noch als solches empfunden, aber wenn er sich wie ein Schulkind, später wie ein Kleinkind benimmt, das Windeln braucht, ist es dann auch noch der geliebte Mann?“ Ellmenreichs Erfahrung aus unzähligen Gesprächen: „In der Pflege mit Dementen werde ich so oder so schuldig.“

Ellmenreich nutzt das Bild eines mit Tagebüchern gefüllten Regals, um zu erklären wie sich die Gedächtnisleistung bei Demenz verändert. „Vom aktuellsten angefangen bis zur Kindheit fallen die Bücher allmählich aus dem Regal.“ Das Gefühlssystem dagegen bleibe noch erhalten, was den respektvollen Umgang mit an Demenz Leidenden und deren Wertschätzung so wichtig mache.

In der Selbsthilfegruppe bringe allein schon die Möglichkeit, Probleme und Gefühle auszusprechen, Entlastung. Die Gruppe biete Solidarität, auch in der Gretchen-Frage, sich selbst zugrunde zu richten oder den Angehörigen in einem Heim unterzubringen. „In der Gruppe lernt eine Tochter etwa, dass es der Mutter im Heim sogar besser geht als bei ihr zuhause“, so der Theologe, „in einem guten wohlgemerkt und nicht in einem, in dem die Menschen nur in der Ecke am Tisch sitzen“, fügt er hinzu. „Im Loslassen von Pflichten kann der Angehörige dann auch sehen, wie ohne ihn Neues möglich ist“, fasst Ellmenreich die Erfahrungen in den Demenz-Selbsthilfegruppen zusammen. Bernd-Christoph Matern

Die von Ellmenreich geleiteten Angehörigengruppen Demenz treffen sich im Seniorenheim ProSeniore in Lahnstein jeden letzten Donnerstag im Monat um 19 Uhr, im Haus Lahnblick (Katharinenhof) in Bad Ems jeden ersten Donnerstag im „ungeraden“ Monat um 17.30 Uhr und jeden ersten Donnerstag im „geraden“ Monat um 17.30 Uhr im Marienkrankenhaus in Nassau.

Informationen unter Telefon 02603/5750.

Demenz


Demenz kommt vom lateinischen „Dementia“ und bedeutet „ohne Verstand“ oder „ohne Geist“. Typische Merkmale von Demenz sind gestörte Merkfähigkeit, Verlust des Denkvermögens, wirklichkeitsfremde Überzeugungen, Sinnestäuschungen, aggressives Verhalten, Leben in einer subjektiven Welt.