Buchmesse 2010: Zwischen Sinnsuche, Bibel-Slam und Thilo Sarrazin Drucken E-Mail

thumb_1a-bm10-rolltreppeFRANKFURT/RHEIN-LAHN. (8. Oktober 2010) Am Samstag öffnen sich auch für nichtprofessionelle Leseratten die Tore der weltgrößten Buchmesse in Frankfurt. Viel Zeit müssen Besucher mitbringen, um einen anregenden Eindruck vom herbstlichen Blättermeer mit nach Hause zu nehmen. 7533 Aussteller aus 111 Ländern tummeln sich auf der rund 172.000 Quadratmeter großen Ausstellungsfläche, die zudem 3000 Veranstaltungen bietet. Das Gastland Argentinien macht mit 70 Autoren und 300 Veranstaltungen auf sich und seine Literatur aufmerksam. Auch wenn die Zahl an Neuerscheinungen sinkt: Eine Fahrt in die Rhein-Main-Metropole ist die Schau allemal auch in diesem Jahr wert.

 

Der 39-jährige Schriftsteller und Journalist Sebastian Fitzek ist zwar kein Unbekannter („PS: Ich töte Dich“ heißt das neueste Werk des Thriller-Autors). Doch dass sich um das blaue ZDF-Sofa solch eine riesige Menschentraube bildet, verdankt er Thilo Sarrazin. Der nimmt nämlich nach ihm auf dem Sofa Platz. Auch nach seinem Berufsabtritt sorgt thumb_1a-bm10sarrazinmasseSarrazins These vom sich abschaffenden Deutschland für neugierige Blicke von Hunderten; ein Dutzend Polizisten mischt sich zudem zur Menge, auch zwei muslimische deutsche Ordnungshüter sind dabei. „Wir sind im Dienst, aber das interessiert mich natürlich auch privat“, sagt einer von ihnen. Werbung hat der Ex-Bankchef für sein rotes Buch eigentlich nicht mehr nötig. Oder doch? Als die Moderatorin fragt, wer das Buch denn gelesen hat, gehen gerade mal drei Hände nach oben – das Zehnfache an Zuschauern meint dagegen zu wissen, was drin steht. Trotz aller Neugier: neue Erkenntnisse gibt es nicht.

thumb_1a-bm10-dreyerGanz anders in Messehalle 3: Volxbibel-Autor Martin Dreyer gibt dort Kostproben seines Bibel-Slam mit Jesusfreaks. Echt cool, geil oder über welche Vokabel Jugendliche sonst noch heutzutage so erreichbar sind! So übersetzt Dreyer die Bibelverse – eigentlich ganz „lutherisch“ gedacht – in den aktuellen Jugendjargon, denn Luthers oder Dudens Deutsch scheint die nicht zu verstehen. Richtig stolz verliest er sogar ein Schreiben aus dem Vatikan, in dem Papst Benedikt dem Volxbibel-Gründer ausdrücklich für sein Engagement dankt, die frohe Botschaft unters junge Volk zu bringen.

Und was gibt es Neues von Margot Käßmann? Eine Zugeh-Empfehlung auf Weihnachten; ansonsten wartet sie im Regal noch einmal mit ihrer Sicht auf die „Mitte des Lebens“ auf. Und sie hat das Vorwort für eine Neuerscheinung thumb_1a-bm10haelftedeshimmelsgeschrieben, die sich einem Thema widmet, das bei aller telegenen Schwarzer‘schen Talkshow-Berieselung manchmal auf der Strecke bleibt: die dauerhafte Menschenrechtsverletzung an Frauen. „Die Hälfte des Himmels“ lautet der Titel, den die Pulitzer-Preis-Autoren Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn ihrem Buch über Frauen gegeben haben, die weltweit für eine bessere Zukunft kämpfen. Ein Buch, das von armen Frauen erzählt, die keinen Himmel sondern täglich die Hölle erleben müssen, und ein Buch, das wirksames Handeln aufzeigt, deren Situation zu verbessern.

Was ist wo in der Kirche und warum? Auf diese Frage gibt Johann Hinrich Claussen in seinem Buch „Gottes Häuser oder die Kunst, Kirchen zu bauen und zu verstehen“ ganz praktische Antworten auf einfache Fragen zur komplexen Bauweise katholischer, evangelischer und orthodoxer Kirchenräume. Eine Gebrauchsanweisung wie Kirchen „funktionieren“ und ein Kirchen(ver)führer für Jung und Alt, der auch die Augen für die Schönheit und den tieferen Sinn der christlichen Gotteshäuser öffnet.

„Die sieben letzten Tage Jesu“ hat Shimon Gibson im gleichnamigen Buch genau unter die Lupe genommen, und zwar archäologisch. Wo heilte Jesus Kranke? Wo fand der Prozess gegen ihn statt? Wo wurde er gekreuzigt und begraben? Eine interessante Spurensuche – nicht nur für Jerusalem-Touristen, sondern auch für Daheimleser, die nach der Lektüre allerdings sicher Gibsons Erkenntnisse vor Ort in Augenschein nehmen wollen.

Ein biblischer Titel schmückt wieder einmal ein Buch von Gisela von Radowitz und Helme Heines: „Der verlorene Sohn“. Nichts Religiöses, sondern ein spannender Roman über einen jungen Mann, der auf der Suche nach sich selbst in die Rolle eines Sohnes fremder Leute schlüpft. Aus Geldnot und Neugier besucht der Abiturient Thomas Bekannte seiner Eltern. Die sind schockiert, weil Thomas ihrem toten Sohn Edward wie aus dem Gesicht geschnitten ist; Ausgangspunkt für eine brillante Erzählung. Nicht der einzige Band, der auf der Buchmesse von Sinnsuche handelt. Da gibt es Anregungen für alle Altersklassen zuhauf.

thumb_1a-bm10-willemsenUnd natürlich werden wieder die neuesten Errungenschaften vom digitalen "Buch"-Genuss präsentiert. Auch wenn die E-Bücher attraktiver werden: dem gedruckten Wort, über dem es sich ebenso gut einschläfen lässt wie am Strand in der Sonne dösen wird es den Rang nicht so schnell, wahrscheinlich nie ablaufen. Gerade mal zwei Prozent Umsatz werden über die elektronische Schiene vermarktet. Und so sprach Autor Roger Willemsen wohl auch den meisten Messebesuchern mit einem Plädoyer für die Sinnlichkeit der Papier blätternden Lektüre aus dem Herzen. 

Wem keine Zeit bleibt oder blieb, alle ausgewählten Stände anzusteuern, darf sich bis zur nächsten Messe auf das Gespür und die Beratung seiner Buchhandlung verlassen. Bernd-Christoph Matern