Damit wir das schaffen: Sachlichkeit statt spaltende Stimmung Drucken E-Mail

thumb_1merkelwirschaffens_co-becrima2016thumb_1a-dresden040315refu_co-becrima-RHEIN-LAHN. (31. August 2016) Es war der 31. August 2015, als Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer alljährlich Sommer-Pressekonferenz vor die Medien trat und diesen legendären Satz sagte: „Wir schaffen das...“. Auch wenn diese Worte mittlerweile millionenfach zitiert und gern zur Polarisierung missbraucht wurden, die ersten im Rhein-Lahn-Kreis, die „geschafft haben“, waren ehrenamtliche Frauen und Männer, die meist unter dem Dach der Kirchengemeinden die Flüchtlinge willkommen hießen und ihnen ganz praktisch mit dem Nötigsten zum Leben und bei der Überwindung von Sprachbarrieren halfen.

 

Um genau zu sein, ging der Satz noch weiter: „...und dort, wo uns etwas im Weg steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.“ Vor allem daran gilt es ein Jahr nach diesem Satz weiterzuarbeiten. Ob in bereits bewährten festen Strukturen wie im schon 2013 gegründeten Diezer Willkommenskreis oder sehr spontan aus reiner Nachbarschaftshilfe – eine feste Säule der Flüchtlingshilfe sind die Kirchengemeinden im Rhein-Lahn-Kreis gewesen und geblieben.

„Natürlich ist die Situation für alle Beteiligten nicht leicht“, sagt der stellvertretende Dekan des evangelischen Dekanats Nassauer Land Christian Dolke, einer der Initiatoren des Diezer Willkommenskreises. „Aber keiner hat sie sich freiwillig ausgesucht; wir nicht, die wir einfach versuchen, zu helfen und Struktur in die Hilfe zu bringen, und die Menschen, die vor Bomben, Hunger, Schmerzen oder Vergewaltigung Schutz suchend zu uns geflohen sind, auch nicht“, so Dolke. Es sei beachtlich, mit wie viel Fleiß und Neugier die meisten Flüchtlinge in den Initiativen des Kreises deutsche Sprache, Regeln und Werte kennen lernen wollten – und nur selten sei es nötig, Grenzen aufzuzeigen oder einen Konflikt zu bestehen – schwarze Schafe gäbe es überall.

Wichtig sei es zudem, dafür zu sorgen, dass kein Neid zwischen einheimischen Hilfsbedürftigen und den Flüchtlingen aufkeime und nicht Hysterie statt Hilfsbereitschaft und sachlicher Argumente die Überhand gewinne. „Ob wir das schaffen, hängt aber ganz entscheidend von dem Klima ab, zu dem auch Politiker durch ihre Äußerungen beitragen.“ Unbegreiflich sind für ihn da die polarisierenden Schlagzeilen und Blogeinträge über ein Burkiniverbot in Frankreich. „Da wird Stimmung gemacht, die niemandem weiterhilft und Integration torpediert.“ Es käme auch niemand auf die Idee, am Diezer Baggersee die Tauchanzüge zu verbieten oder Menschen, die keine Sonne vertragen, einen Platzverweis zu erteilen. „Eben das ist die Freiheit, die ich in unserem Land so schätze.“

Anstatt solch spaltenden Diskussionen Nahrung zu geben, hält es Dolke für konstruktiver, sich an ehrenamtlichen Helfern ein Beispiel zu nehmen und selbst mitzuarbeiten bei der Integration. „Sie helfen nicht nur, sie leben und schaffen ein Klima der Toleranz mit Werten und Normen, des gegenseitigen Verständnisses und der Menschlichkeit, woran es unserer Welt immer mehr mangelt“, sagt der Theologe und fügt hinzu: „Christen nennen es auch Nächstenliebe“.

Ganz praktische Ansätze schlägt Linda Selig vor. Die Mitarbeiterin des Dekanats Nassauer Land koordiniert von Nastätten aus die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe in den Verbandsgemeinden Katzenelnbogen, Loreley und Nastätten. „Die Integration der geflüchteten Menschen ist zu schaffen – aber dies geschieht nicht von selbst.“ Wichtig sei, dass die Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe weiter unterstützt werden durch Beratungsstellen und eine gute Zusammenarbeit mit den Kommunen. „Und einen Mehrwert für alle hätte es, wenn mehr Menschen mit arabischen Sprachkenntnissen in Behörden und zum Beispiel den Jobcentern arbeiten würden, um dort eine Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft zu ermöglichen.“

Mehr als 8.000 Männer und Frauen engagieren sich in 655 hessen-nassauischen Kirchengemeinden in der Flüchtlingshilfe. Das ist das Ergebnis einer umfassenden Untersuchung in allen 1.151 Gemeinden der der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), die im Juli dieses Jahres vorgestellt wurde. Damit sind weit über die Hälfte aller Gemeinden in der Flüchtlingsarbeit aktiv. 70 Prozent der engagierten Gemeinden arbeiten dabei in Kooperationen und Netzwerken mit diakonischen und anderen sozialen Einrichtungen zusammen.

Es sind dabei vor allem Sprachkurse und Deutschunterricht, die etwa ein Drittel der Aktivitäten ausmachen. Ein weiteres Drittel der Aktiven organisiert konkrete Hilfe vor Ort wie das Sammeln von Kleidern oder beteiligt sich an Runden Tischen zur besseren Integration. Mit etwa zehn Prozent folgt die Hilfe bei der Beschaffung von Wohnraum. Die Synode der EKHN selbst hat ein Hilfspaket verabschiedet, mit dem in den kommenden Jahren rund 21 Millionen Euro in die Arbeit mit Flüchtlingen investiert werden soll. Damit will sie die professionelle Flüchtlingsberatung aufstocken, mehr Stellen für die Koordination ehrenamtlichen Engagements in den Kirchengemeinden schaffen sowie Integrationsmaßnahmen in den knapp 600 evangelischen Kindertagesstätten unterstützen.

Der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Volker Jung, erklärte, das Wort der Kanzlerin sei von der evangelischen Kirche nie als „Durchhalteparole, sondern aus einer tiefen Überzeugung heraus als Handlungsimpuls an alle verstanden worden“. In der Folge hätten „Kirche und Diakonie aus dem ‚Wir schaffen das‘ ein ‚Wir sind dabei!‘“ gemacht.

Der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Hessen, Pfarrer Horst Rühl, sagte, es sei beeindruckend, wie sich in den zurückliegenden Monaten Menschen im Kreis der Kirche für Notleidende eingesetzt hätten und „damit auch ein klares Bekenntnis gegen jegliche Ausgrenzung und Stimmungsmache “ gesetzt hätten. Die Diakonie Hessen bringt sich mit 36 hauptamtlichen Koordinatorinnen und Koordinatoren in die Arbeit ein. Sie begleiten und qualifizieren das ehrenamtliche Engagement.

Die Kirchenvertreter gingen auch auf jüngste Entwicklungen in Flüchtlingsfragen ein. Mit Blick auf das zuletzt in Nordrhein-Westfalen diskutierte Thema Kirchenasyl lobte Kirchenpräsident Volker Jung die Position der hessischen und rheinland-pfälzischen Regierungen: „Kirchenasyl ist kein verbrieftes Recht, sondern eine allerletzte Maßnahme, den Einzelfall nochmals zu prüfen. Ich bin dankbar dafür, dass die Landesregierungen die Regelung in unseren Kirchengebieten respektvoll und sensibel begleiten.“ Hilfe werde konkret, wenn jugendlichen Flüchtlingen eine Teilnahme an den Angeboten der Vereine vor Ort, besonders der Sportvereine, ermöglicht werde. „Es ist wichtig, die Jugendlichen aktiv einzubinden. Niederschwellige Angebote, die sich aus ihrer Isolation herausholen, sind das Gebot der Stunde!“

Diakonievorsitzender Horst Rühl untermauerte erneut die Forderung nach einem erleichterten Familiennachzug für Flüchtlinge. Er kritisierte, „dass viele syrische Flüchtlinge nur noch einen nachgeordneten Schutzstatus erhalten und damit der Nachzug ihrer Familien für zwei Jahre ausgesetzt ist." Zudem wies Rühl auf ein weiteres Problem hin: die lange Bearbeitungsdauer der Anträge auf Familienzusammenführung bei den Deutschen Botschaften.

Der Grundsatz der Einheit der Familie und das Recht auf Familiennachzug hätten für Diakonie und Kirche eine herausragende Bedeutung. „Umso mehr besorgt es uns, dass dieses Recht zunehmend ausgehöhlt wird“, sagte Rühl. Er betonte, dass sich die Diakonie auch deshalb in der konkreten Beratungsarbeit engagiere, "weil sich dort die Folgen von gesetzlichen Verschärfungen zuerst zeigen, sei es bei den Problemen im Rahmen der Familienzusammenführung oder aufgrund von Abschiebungen in ein anderes europäisches Land gemäß der Dublin-Verordnung“. (bcm/vr)