Pogrom-Jahrestag in Nassau: Texte gegen das Schweigen Drucken E-Mail

thumb_10-erb-lazar101109NASSAU/RHEIN-LAHN. (12.November) Die Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges sterben allmählich aus. Und viele werden Geheimnisse mit ins Grab nehmen, über die sie vielleicht lieber geredet hätten, zumindest wünschen sich dies Viele der nachfolgenden Generation. Zwei von ihr bescherten jetzt zum Jahrestag der Reichspogromnacht in Nassau eine außergewöhnliche Begegnung. Odelia Lazar und Jörg Erb erinnerten in einer bewegenden Mischung aus Musik und Erzählungen an das Schicksal ihrer Familien – die eine Jüdin und Enkelin von in Auschwitz vergasten Großeltern, der andere Sohn eines Mitglieds der Waffen-SS.

"Irgendwer muss ja um uns weinen!", sang Erb in einem Lied, das dem Abend seinen Titel gab. „Gehen Sie mal davon aus, dass nichts war“, habe er häufig bei den Recherchen zur Vergangenheit seines Vaters zu hören bekommen, so Erb. „Das Gegenteil würde mich beruhigen“, sagte der Hamburger Liedermacher, der den Zuhörern in der evangelischen Johanniskirche aus dem Tagebuch seines Vaters vorlas. Der hatte sich als 16-Jähriger freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und erlebte wenig später hautnah die Erschießung eines Deserteurs mit. Jahrzehnte litt er unter diesen Erlebnissen, ohne mit seinem Sohn darüber gesprochen zu haben. „Ich lese das, aber es fehlen mir die Fakten“, so Erb.

Auf der anderen Seite stand das unbeschreibliche Leid der jüdischen Familien, von dem Odelia Lazar berichtet, deren Großeltern im Konzentrationslager in Auschwitz grausam ermordet wurden. Wie eine Wohltat kommt auch der in Tel Aviv geborenen Musikerin ihr Aufwachsen und Leben in Wohlstand und Bildung, aber ohne das Gespräch mit den Ahnen nicht vor; vor allem dann nicht, wenn sie durch Straßen geht, wo längst vergessen ist, wie vor 71 Jahren ihre Vorfahren blinde Zerstörungswut und Hass erleiden mussten, wie sogar Schulkinder dabei zuschauen konnten und die „Erinnerung an das Judentum liquidiert“ wurde.

Das geschah auch in Nassau. Stadtbürgermeister Armin Wenzel hatte zu Beginn des Abends an die antisemitische Entwicklung in Nassau erinnert, die am 10. November 1938 mit der Zerstörung der Synagoge und jüdischer Wohnungen einen ersten Höhepunkt fand. „Das Schweigen der Kirche und ihre Verweigerung der Solidarität mit Schwachen blieb eine Schande der Kirche“, zitierte der Stadtchef aus historischen Aufzeichnungen.

Dem Schweigen, Verdrängen und Verleugnen ein Ende zu bereiten – darum geht es den beiden Künstlern mit ihrem Programm. Nur so kann das schwierige Erbe und dessen seelische Auswirkungen auch auf die Nachkommen von Opfern und Tätern aufgearbeitet werden. Welcher Nachholbedarf da besteht, wurde in dieser einzigartigen Begegnung schmerzlich spürbar. Musik und Liedtexte berühren über das familiäre Schicksal der beiden Interpreten hinaus in weiten Kreisen.

Musikalisch setzten Erb an der Gitarre und Lazar an Akkordeon und Klavier ihre Gedanken und Gefühle in Liedern mit viel Melancholie um, aber auch volkstümliche Rhythmen, Blues und jiddische Lieder vom Glück (Massel) oder der jiddischen Mama kamen zu Gehör.

Ein Zeichen gegen das Vergessen will auch die evangelische Kirchengemeinde setzen durch den Kauf von „Stolpersteinen“, bei der in ganz Europa mit Messing überzogene Pflastersteine an die einst jüdischen Bewohner von Gebäuden erinnern. Stadtchef Wenzel hofft, dass die Aktion aus der Nassauer Bevölkerung heraus Unterstützung findet. Auch die Kollekte des musikalisch-poetischen Erinnerns war dafür bestimmt. „Ich hoffe, dass dieser Abend gute Folgen hat“, so Gemeindepfarrerin Dr. Brigitte Menzel-Wortmann. Bernd-Christoph Matern