Trotz Behinderung Stolz und Sehnsucht in Worte gefasst Drucken E-Mail

thumb_1a-eks061014lesautogramme_becrima-RHEIN-LAHN. (7. November 2014) „Mich störte meine Behinderung, obwohl ich nicht genau wusste, was meine ist. Eigentlich könnte ich glücklich sein, denn ich sehe wirklich nicht behindert aus.“ Diese Zeilen aus dem Buch von Markus Engfer las der Autor selbst jetzt in der Erich Kästner-Schule in Singhofen vor. „Der Schatten meines Lebens“ heißt das Werk, das ebenso ehrlich wie eindrücklich vom Alltag und den Gefühlen eines jungen Mannes mit geistigen und sprachlichen Beeinträchtigungen erzählt.

Warum er und „pro familia“ Koblenz den jungen Autor aus Rheine zu einer Lesung in die Förderschule des Rhein-Lahn-Kreises nach Singhofen eingeladen hatte, erklärte Schulleiter Jürgen Hoder zu Beginn der Lesung: „Es vergeht ja kaum ein Tag, an dem sich nicht jemand zum Begriff der Inklusion äußert; aber man hört so selten die Stimme derer, um die es geht“. Engfer „googelte“ selbst den Begriff Inklusion und kam zum Ergebnis: „Auf den meisten Seiten äußerten sich Politiker dazu. Ich beschloss, mir mein eigenes Bild von Inklusion zu machen!“

In Singhofen erzählt er aus seiner bewegten Schulzeit und zitiert vor einem sehr interessierten Publikum zusammen mit seiner Tante Ursula d'Almeida-Deupmann aus seinem Werk. Sie war es, die den jungen Mann trotz seiner Lernbehinderung und einer mittlerweile überwundenen Legasthenie zum Schreiben motivierte, womit sich Engfer aus depressiven Zuständen befreite. „Ein trauriger Mensch. Warum? Eine Behinderung.“ So ist das eingangs zitierte Kapitel überschrieben.

Doch die Lesung zeigt einen alles andere als traurigen Menschen. Neben Nachdenklichem bestimmen Spontaneität und Wortwitz den Abend. Auf den 200 Seiten, mit denen Engfer bereits einen Literaturpreis einheimste, schildert der heute 22-Jährige gute und schlechte Erfahrungen in drei Förderschulen, Begegnungen, in denen er Intoleranz und Unsicherheit seiner Mitmenschen erlebte. Auch aus seiner Sehnsucht nach Liebe macht er unter der Überschrift „Zu zweit ist weniger allein“ keinen Hehl.

Den Satz „Du siehst gar nicht so behindert aus“ sollte er wohl als Kompliment verstehen, erzählt Engfer und fragt: „Wie viel Stolz darf ein Behinderter eigentlich haben?“ Er schildert er eine Busfahrt, in der sich junge Leute über ihn lustig machen; vielleicht, so mutmaßt er, weil er beim Fahrtantritt dem Busfahrer seinen großen Behindertenausweis zeigen musste. Die sollen bald Scheckkarten-Format annehmen, „dann könnte es sich auch um einen Fahrausweis handeln, und die Leute sehen nicht gleich, dass man behindert ist.“

thumb_1a-eks061014lesungbeide_becrima-Immer wieder machen die Beiden anhand Engfers Aufzeichnungen darauf aufmerksam, wo „inklusive“ Wünsche und Wirklichkeit noch weit voneinander entfernt sind. Dazu zählt neben der Ausweis-Größe auch der Transport in die Schulen: „Was den Kindern und Jugendlichen an langen Wegen zugemutet wird, ist heftig“, sagt d'Almeida-Deupmann, die mit ihrem Neffen überwiegend per E-Mail korrespondierte und ihn zum Schreiben ermunterte. „Ich bin echt anders geworden durch das Buch“, sagt der 22-Jährige.

Die Entwicklung ihres Neffen ist für die Verlegerin, die selbst als Autorin arbeitet, das Ergebnis ganz individueller Betreuung und Förderung statt alle Menschen über einen Kamm zu scheren. „In jedem Menschen schlummern Kompetenzen; man muss sie nur finden und wecken“, so d'Almeida-Deupmann, die nebenbei auch die Begabung fürs Zeichnen und Fotografie beim Autor entdeckte. Nicht nur er, auch sie habe etwas gelernt: „Schätze die Fähigkeiten in dir und suche sie bei Anderen.“

Nach der Förderschulzeit arbeitete Engfer zwei Jahre in einer Werkstatt für Behinderte. „Und das soll ich jetzt 50 Jahre machen?“, fragte er sich damals, als er Tücher faltete und Paletten schraubte. „Wäsche sortieren ist nicht so mein Ding“, verrät er und gibt noch eine amüsante Anekdote an der heimischen Waschmaschine zum Besten. Das Schreiben war anstrengend, schenkte ihm aber Selbstbewusstsein und den Willen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die Folge: Er machte seinen Hauptschulabschluss und strebt die Mittlere Reife an. „Ich würde gern etwas Soziales machen“, lässt er die Besucher zu seiner beruflichen Zukunft wissen. Und auch dem Schreiben will er treu bleiben: „Eine Fortsetzung ist in Planung“.

Eine Lieblingsbeschäftigung von ihm: Menschen beobachten und reisen. Mit 19 Jahren organisierte er erstmals allein einen Aufenthalt in Berlin. Er kommt ins Schwelgen, als er andere Wunsch-Reiseziele aufzählt und mit einem schelmischen Lächeln hinzufügt: „Das Praktische am Behindertenausweis ist, dass man kostenlos die Bahn nutzen kann“. Sowohl die in den 20 Geschichten festgehaltene Gedanken- und Gefühlswelt des Autors als auch dessen Schlagfertigkeit und Witz beeindrucken die Zuhörer im voll besetzten Klassenraum. A

m Ende des Abends haben die Zuhörer nicht nur das Buch eines aufgeweckten jungen Autors kennen gelernt. Lesung und Schilderungen machen deutlich, dass der Begriff „Behinderung“ ein sehr relativer ist, der allenfalls die medizinische Verfassung einer Person betrachtet, aber längst nicht die Fähigkeiten, Gedanken, Gefühle und den Charakter eines Menschen. Markus Engfer drückt es so aus: „Ein Handicap ist, etwas nicht zu können. Einer, der eine Brille trägt, hat das Handicap, nicht so gut zu sehen. Das ist sein Handicap und es gibt viele andere Handicaps oder Behinderungen. Doch sind wir mal ehrlich, haben wir nicht alle ein Handicap?“ Bernd-Christoph Matern

thumb_1a-eks061014lesung_becrima-


Mittendrin statt ausgegrenzt: Nicht nur fürs Erinnerungsfoto will Autor Markus Engfer mitten unter den Menschen seinen Platz finden.
Fotos: Matern

 

 Markus Engfer:
Der Schatten meines Lebens
208 Seiten
pasculla-Verlag 2012
ISBN-13: 978-3981381528
Preis: 9,80 Euro